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»Der Islam wird sie allesamt von der Straße fegen, diese beschissenen, gottlosen grottenschlechten Fahrer!« schrie der Fahrer einem Konkurrenten zu. »Die ganze Stadt wird der Islam von jüdischen Luden wie dich und deine Straßenschreck-Hure von Judensau befreien.« Diese Flüche setzten sich die ganze Tenth Avenue entlang fort. »Du ungläubiger Ficker deiner unmündigen Schwester, Allahs Hölle erwartet dich und deine unheilige Dreckkarre.« »Unreines Ferkel einer scheißefressenden Sau, versuch das noch mal, und der siegreiche Dschihad wird dir mit seiner rachsüchtigen Faust die Eier zerquetschen.« Malik Solanka, der sich dieses explosive, dialektgezeichnete Urdu anhören mußte, ließ sich von den giftigen Ausbrüchen des Fahrers kurzzeitig von seinem inneren Aufruhr ablenken. ALI MAJNU stand auf dem Schild. Majnu bedeutete geliebt. Dieser spezielle Geliebte war etwa fünfundzwanzig oder jünger, ein netter, hübscher Junge, hochgewachsen und mager, mit einer sexy John-Travolta-Tolle, und nun lebte er in New York mit einem festen Job; was hatte ihn nur so unbegreiflich wütend gemacht?

Im stillen beantwortete Solanka die Frage selbst. Wenn jemand zu jung ist, um die Schmerzen eigener Erfahrung angesammelt zu haben, kann er beschließen, sich die Leiden seiner Welt wie ein härenes Hemd überzuziehen. In diesem Fall wurde, weil der Friedensprozeß im Mittleren Osten mühsam vorwärtsstolperte und der scheidende amerikanische Präsident, versessen auf einen Durchbruch, um seinen beschädigten Ruf aufzupolieren, Barak und Arafat zu einer Sommerkonferenz in Camp David drängte, die Tenth Avenue vermutlich für die unaufhörlichen Leiden Palästinas bestraft. Der geliebte Ali war Inder oder Pakistani, gab aber, zweifellos aus einem irregeleiteten kollektivistischen Teamgeist paranoider panislamischer Solidarität, den Benutzern der New Yorker Straßen die Schuld an den Leiden der muslimischen Welt. Zwischen seinen Flüchen redete er über Funk mit dem Bruder seiner Mutter: »Jawohl, Onkel. Jawohl, sehr vorsichtig, natürlich Onkel. Jawohl, der Wagen kostet Geld. Nein, Onkel. Jawohl, immer höflich, Onkel, du kannst dich auf mich verlassen. Jawohl, die beste Diplomatie. Ich weiß.« Und fragte Solanka gleichzeitig ein wenig verlegen nach dem Weg. Es war der erste Arbeitstag des Jungen in diesen schwierigen Straßen, und er hatte eine Heidenangst. Solanka, selbst hochgradig erregt, war gleichbleibend freundlich zu dem Geliebten, sagte aber, als er am Verdi Square ausstieg: »Das nächste Mal vielleicht ein bißchen weniger von diesem Gossenjargon, okay, Ali Majnu? Ein bißchen gedämpfter die Flüche. Manche Kunden könnten beleidigt sein. Selbst solche, die kein Wort verstehen.«

Der Junge starrte ihn verständnislos an. »Ich, Sir? Ich hätte geflucht? Aber wann denn?« Das war merkwürdig. »Die ganze Zeit«, antwortete Solanka. »Und auf alle und jeden in Hörweite. Motherfucker, Jude, das übliche Repertoire. Urdu«, ergänzte er auf Urdu, um die Dinge klarzustellen, »meri madri zaban hai.« Urdu ist meine Muttersprache. Der Geliebte wurde rot, tiefrot, die Farbe verbreitete sich bis auf den Kragenrand hinunter, und er begegnete Solankas Blick mit einem verwirrten, unschuldigen Ausdruck in den dunklen Augen. »Wenn Sie’s gehört haben, Sahib, dann wird’s wohl stimmen. Aber, Sir, verstehen Sie, ich hab’s selber nicht gemerkt.« Solanka verlor die Geduld und wandte sich zum Gehen. »Spielt keine Rolle«, sagte er. »Autokoller. Du hast dich hinreißen lassen. Ist nicht so wichtig.« Als er davonging, auf dem Broadway, rief der geliebte Ali ihm pikiert, Verständnis heischend nach: »Es hat nichts zu bedeuten, Sahib. Ich geh nicht mal in die Moschee. Gott segne Amerika, okay? Es sind nur Worte.« Ja, und Worte sind nicht Taten, räumte Solanka ein, während er verärgert davonging. Obwohl Worte zu Taten werden können. Am richtigen Ort und zur richtigen Zeit gesprochen, können sie Berge versetzen und die Welt verändern. Und nicht zu wissen, was man tat - die Taten von den Worten zu trennen, die sie definieren -, wurde offenbar zu einer akzeptablen Ausrede. Zu sagen, ich hab’s nicht so gemeint, hieß, seinen Missetaten die Bedeutung zu nehmen, wenigstens nach Meinung der geliebten Alis dieser Welt. Konnte das sein? Offensichtlich nicht. Nein, es konnte einfach nicht sein. Viele Leute würden sagen, selbst eine Tat aufrichtiger Reue könne ein Verbrechen nicht wieder gutmachen, geschweige denn diese undefinierbare Sprechblase - eine unendlich viel schwächere Ausrede, nichts weiter als das Eingeständnis einer Ignoranz, die auf keiner Skala des Bedauerns verzeichnet ist. Erschrocken erkannte sich Solanka in dem törichten jungen Ali Majnu selbst wieder: sowohl die Vehemenz als auch die leeren Stellen in seiner Vergangenheit. Aber er entschuldigte sich nicht. In Jack Rhineharts Wohnung, bevor der umwerfende Auftritt Neela Mahendras zu einem Themenwechsel führte, hatte er, wiewohl die Tiefe seiner Beunruhigung kaschierend, Rhinehart ein wenig von seiner Angst vor dem terroristischen Zorn, der ihn immer wieder in Geiselhaft nahm, anzuvertrauen versucht. Jack, in sein Fußballspiel vertieft, nickte zerstreut. »Deine Zündschnur scheint immer schon ziemlich kurz gewesen zu sein«, sagte er. »Ich meine, das ist dir doch klar, oder? Du weißt doch, wie oft du die Leute am Morgen nach einer deiner kleinen, alkoholisierten Explosionen angerufen hast, um dich zu entschuldigen - wie oft du mich angerufen hast. Die Gesammelten Apologien des Malik Solanka. Ich glaube, das würde ein interessantes Buch. Repetitiv, vielleicht, aber mit zahlreichen komischen Glanzpunkten.«

Einige Jahre zuvor hatten die Solankas im Cottage in The Springs Urlaub gemacht, zusammen mit Rhinehart und seiner damaligen Kellnerin, einer zierlichen Südstaaten-Schönheit - aus Lookout Mountain, Tennessee, Schauplatz der Bürgerkriegs-Schlacht über den Wolken die eine Doppelgängerin der Comic-Sexbombe Betty Boop war und die Rhinehart liebevoll Roscoe nannte, nach Lookout Mountains einziger lebender Berühmtheit, dem wuchtig servierenden Tennisspieler Roscoe Tanner, obwohl sie diesen Spitznamen haßte. Das Cottage war so klein, daß man möglichst viel Zeit fern davon verbringen mußte. Eines Abends, nach einer ausgedehnten Männertrinkrunde in einer East Hamptoner Kneipe, hatte Solanka darauf bestanden, die anderen mitten in einem schweren Platzregen nach Hause zu fahren. Was dazu führte, daß eine Zeitlang unbeschreibliche Angst im Auto herrschte. Dann sagte Rhinehart, so behutsam er konnte: »Hier in Amerika fahren wir auf der anderen Straßenseite, Malik.« Solanka war aus der Haut gefahren, hatte, aufgebracht über die Respektlosigkeit seinen Fahrkünsten gegenüber, den Wagen angehalten und Rhinehart gezwungen, im strömenden Regen zu Fuß nach Hause zu gehen. »Das war eine deiner schönsten Entschuldigungen«, erinnerte Jack ihn jetzt. »Vor allem, weil du dich am nächsten Morgen nicht mehr daran erinnern konntest, überhaupt etwas falsch gemacht zu haben.«

»Ja«, murmelte Solanka, »aber jetzt habe ich diese Black-outs ohne Schnaps. Und die Zornesausbrüche bewegen sich auf einer völlig anderen Ebene.« Während er sprach, rauschte der Lärm im Fernsehen auf, forderte Rhineharts Aufmerksamkeit ein, und das Geständnis blieb ungehört. »Ach, und du weißt ja nicht, wie sehr sich deine Freunde bemühen, gewisse Themen in deiner Gegenwart zu meiden«, nahm Rhinehart ein wenig später den Faden wieder auf. »US-Politik in Mittelamerika, zum Beispiel. US-Politik in Südostasien. Eigentlich sind die Vereinigten Staaten insgesamt seit Jahren fast ein Tabu gewesen, also glaub ja nicht, ich hätt’ mich nicht schlapp gelacht, als du deinen Arsch wieder in den Schoß des Großen Satans persönlich gebettet hast.« Ja, aber was falsch ist, ist falsch, wollte Solanka sagen, der den Köder sofort schluckte, und wegen der gottverdammten, grenzenlosen Macht Amerikas, der immensen beschissenen Verlockung Amerikas, kommen diese Schweine an den Schaltstellen damit durch, daß sie ... »Siehst du? Es geht schon los.« Rhinehart zeigte mit dem Finger auf ihn und kicherte. »Dir schwillt schon der Kamm. Blutrot, dann dunkelrot, dann fast schwarz. Ein Herzanfall droht. Und weißt du, wie wir das nennen, wenn es passiert? Solankert werden. Maliks Chinasyndrom. Eine verfickte, beschissene Kernschmelze ist das, ehrlich. Ich meine, mein Freund, ich bin der Mann, der wirklich da war, in diesen Ländern, und der die schlechten Nachrichten mitgebracht hat, aber das hindert dich nicht daran, mir das alles vorzuhalten, wegen meiner Staatsbürgerschaft, die mich in deinen verrückten Augen für all das mächtig Böse verantwortlich macht, das in meinem armen Namen immer wieder getan wird.«

Alter schützt vor Torheit nicht. Also sind ich und der geliebte Ali im Grunde doch einander ähnlich, dachte Solanka demütig. Nur ein paar kleine, oberflächliche Unterschiede im Vokabular und in der Bildung. Nein: Er war schlimmer, weil der Geliebte nur ein Bengel am ersten Tag im neuen Job war, während er, Solanka, zu etwas Schrecklichem und vielleicht Unkontrollierbarem wurde. Die bittere Ironie war, daß seine alte Kampfbereitschaft, seine offenbar komische Unbeherrschtheit selbst seine Freunde für die große Veränderung der Dinge blind machte, für die gräßliche Entartung, die gegenwärtig stattfand. Dieses Mal kam der Wolf wirklich, und niemand, nicht einmal Jack, hörte auf seine Warnrufe. »Außerdem«, triumphierte Rhinehart fröhlich, »weißt du noch, wie du diesen, wie hieß er noch, einfach rausgeworfen hast, nur weil er Philip Larkin falsch zitiert hat? Mann! Du hast also Krach mit deinen Nachbarn? Donnerwetter! Du kriegst die Titelseite!« Wie konnte Malik Solanka mit diesem fröhlichen Freund über Selbstverleugnung sprechen: wie ihm sagen, Amerika ist der große Nimmersatt, und ich bin nach Amerika gekommen, um mich verschlingen zu lassen? Wie konnte er sagen, ich bin ein Messer im Dunkeln; ich gefährde jene, die ich liebe?

Solankas Hände juckten. Selbst seine Haut ließ ihn im Stich. Er, dessen Babypopohaut die Frauen immer dazu gebracht hatte, ihn zu bewundern und ihm neckisch vorzuwerfen, er habe ein behütetes Leben in Wohlstand geführt, hatte in letzter Zeit an einem unangenehmen Ausschlag entlang des Haaransatzes und, am unangenehmsten, an beiden Händen gelitten. Die Haut rötete sich, wurde rauh und riß. Bisher hatte er noch keinen Dermatologen aufgesucht. Bevor er Eleanor verlassen hatte, die schon ihr Leben lang an Ekzemen litt, hatte er ihre Hausapotheke durchsucht und zwei dicke Tuben Hydrocortisonsalbe an sich genommen. Im Duane Reade kaufte er eine Riesenflasche besonders starke Feuchtigkeitslotion und gewöhnte es sich an, sie mehrmals am Tag zu benutzen. Professor Solanka hatte keine hohe Meinung von Ärzten. Also verschrieb er sich die Medikamente selbst und litt an Juckreiz. Es war das Zeitalter der Naturwissenschaft, aber die Medizin befand sich immer noch in den Händen von Primitiven und Dummköpfen. Das Wichtigste, was man von den Ärzten hörte, war, wie wenig sie wußten. In der Zeitung hatte er gestern eine Story über einen Doktor gelesen, der einer Frau versehentlich die gesunde Brust entfernt hatte. Er erhielt einen Verweis. Das war eine so alltägliche Geschichte, daß sie es nur auf eine Seite weit hinten brachte. Und das war typisch für die Arbeit der Ärzte: die falsche Niere, die falsche Lunge, das falsche Auge, das falsche Baby. Ärzte machten vieles falsch. Das war keine besondere Nachricht wert.

Die Nachrichten: Sie waren hier, direkt in seiner Hand. Nachdem er aus dem Taxi des geliebten Ali gestiegen war, hatte er sich je ein Exemplar der News und der Post gekauft und war dann auf Umwegen nach Hause gegangen - mit schnellen Schritten, als müsse er vor etwas fliehen ...

Ellen DeGeneres, behaupteten die Plakate, werde bald im Beacon Theatre auftreten. Solanka verzog das Gesicht. Sie würde natürlich ihren Titelsong singen: Where the hormones, there moan I. Und der Saal würde voll besetzt mit Weibern sein, die laut brüllten: »Ellen, wir lieben dich«, und mitten in ihrem Programm durchschnittlichen Materials würde die Comedienne innehalten, den Kopf senken, die Hand aufs Herz legen und sagen, wie gerührt sie darüber sei, zum Symbol ihrer aller Qual geworden zu sein. Lobet mich, danke, danke, lobet mich nochmals, he, guck mal, Anne, wir sind eine Ikone!, wow!, es ist so demütigend ... Die Wissenschaft macht erstaunliche Entdeckungen, dachte Professor Solanka. In London glaubten Wissenschaftler, die mediale Insula entdeckt zu haben, einen Teil des Gehirns, der mit angenehmen Gefühlen verbunden ist, und auch jenen Teil des anterior cingulate, der mit der Euphorie zusammenhängt, also den Sitz der Liebe. Außerdem behaupteten jetzt britische und deutsche Wissenschaftler, der frontale laterale Cortex sei für die Intelligenz verantwortlich. Der Blutstrom in dieser Region nahm zu, sobald freiwillige Versuchspersonen komplizierte Rätsel lösen mußten. Sag mir, wo die Phantasie sitzt?/ Im Herzen oder im Kopf? Und wo im Gehirn, fragte sich Solanka mit ungestümem Herzen nur halb rhetorisch, liegt der Sitz der Dummheit? He, ihr Wissenschaftler auf der Welt! In welcher Insula oder welchem Cortex nimmt der Blutstrom zu, wenn man einer beschissenen total Fremden Ich liebe dich! zuruft? Und was ist mit der Heuchelei? Jetzt kommen wir zu den interessanten Fragen ...

Er schüttelte den Kopf. Du weichst dem Thema aus, Professor. Du schlägst Kreise um das Thema herum, während du es doch nur niederstarren, ihm direkt ins Gesicht sehen mußt. Kommen wir zum Zorn, okay? Kommen wir zu der gottverdammten Wut, die tatsächlich tötet. Sagen Sie mir, wo entsteht der Mord? Malik Solanka hastete, seine Zeitung fest in der Hand, so eilig auf der Seventy-second Street ostwärts, daß die Passanten zur Seite stoben. Auf der Columbus Avenue wandte er sich nach links und rannte fast ein weiteres Dutzend elende Häuserblocks oder so weit, bevor er wieder stehenblieb. Selbst die Geschäfte hier trugen indische Namen: Bombay, Pondicherry. Alles hatte sich verschworen, ihn an das zu erinnern, was er zu vergessen suchte - das heißt, an zuhause, die Vorstellung des Zuhauses im allgemeinen und sein eigenes Zuhause im speziellen. Nicht in Pondicherry, aber, jawohl, es läßt sich nicht leugnen, in Bombay. Er betrat eine mexikanische Bar mit hoher Zagat’s-Bewertung, bestellte einen Tequila, und noch einen, und dann wurde es endlich Zeit für die Toten.

Für diese, die Leiche von gestern nacht, und die beiden davor. Und so lauteten ihre Namen: Saskia Sky Schuyler, heute das große Bild, und ihre Vorgängerinnen Lauren Ren Muybridge Klein und Belinda Bindy Booken Candell. Und das war ihr Alter: neunzehn, zwanzig, neunzehn. Dies waren ihre Fotos. Sieh nur ihr Lächeln: Es war das Lächeln der Macht. Ein Betonbrocken hatte diese Lichter ausgelöscht. Es waren keine armen Mädchen, jetzt aber besaßen sie keinen roten Heller mehr.

Die war wirklich toll, diese Sky. Einsfünfundsiebzig, gut bestückt, sprach sechs Sprachen, erinnerte jeden an Christie Brinkley als das Uptown Girl, liebte große Hüte und teure Mode, hätte für alle laufen können - Jean-Paul, Donatella, Dries hatten sie alle angefleht, Tom Ford war vor ihr auf die Knie gefallen, aber sie war einfach von Natur aus zu schüchtern. Daß sie dabei nicht mitmachte, gehörte zum Kodex der alteingesessenen Oberklasse. Sie gehörte ganz und gar zu jener Snobberia mit uraltem Geld, für die Couturiers stets Schneider blieben und Catwalk-Models kaum besser als Huren waren - und außerdem besaß sie ein Stipendium für Juilliard. Letztes Wochenende noch hatte sie es eilig gehabt, nach Southampton rauszufahren, brauchte irgendwas zum Anziehen, keine Zeit zum Auswählen, also rief sie ihre Busenfreundin, die Luxus-Designerin Imelda Poushine, an und bat sie, ihr die gesamte Kollektion zu schicken, woraufhin sie ihr per Boten einen Scheck über vierhunderttausend Dollar zukommen ließ.

Ja, äußerte sich Imelda dazu in Rush & Molloy, der Scheck ist vor zwei Tagen honoriert worden. Sie war ein großartiges Mädchen, eine lebende Puppe, aber Geschäft ist Geschäft, nehm ich mal an. Sie wird uns allen ganz furchtbar fehlen. Ja, im Familiengrab, im besten Teil, direkt gegenüber von Jimmy Stewart. Alle gehen hin. Enorme Sicherheitsmaßnahmen. Wie ich höre, wollen sie sie im Brautkleid beerdigen. So eine Ehre. Sie wird wundervoll aussehen, aber glauben Sie mir, dieses Mädchen würde sogar in Lumpen wundervoll aussehen. Ja, ich werde sie anziehen. Soll das ein Witz sein? Es ist mir eine Ehre. Der Sarg wird offenbleiben. Die Allerbesten haben sie engagiert: Sally H. für die Frisur, Rafael fürs Make-up, Herb für die Fotos. Keine Grenzen nach oben. Ihre Mutter organisiert das Ganze. Diese Frau ist aus Stahl. Keine einzige Träne. Selbst gerade erst fünfzig und todschick, entschuldigen Sie, drucken Sie das lieber nicht, okay? Ich wollte keinen Wortwitz machen.

Die Erben enterbt, die Herren zu Opfern gemacht: das war der Trick. Die ganze schöne Bildung umsonst! Denn Saskia war mit ihren neunzehn Jahren nicht nur Linguistin, Pianistin und Modekennerin; sie war außerdem eine ausgezeichnete Reiterin, eine Bogenschützin, die hoffte, ins Olympiateam für Sydney zu kommen, Langstreckenschwimmerin, eine fabelhafte Tänzerin, eine großartige Köchin, eine fröhliche Wochenendmalerin, Belcanto-Sängerin, Gastgeberin nach dem grandiosen Vorbild ihrer Mutter und, nach der eindeutigen Sinnlichkeit ihres Zeitungslächelns zu urteilen, außerdem in anderen Künsten bewandert, denen sich die Regenbogenpresse durchaus widmete, von denen sie in einem solchen Zusammenhang jedoch nicht ohne weiteres zu sprechen wagte. Die Zeitungen begnügten sich damit, Fotos von Saskias attraktivem Beau zu drucken, dem Polospieler Bradley Marsalis III., über den fleißige Leser wenigstens soviel wußten: daß seine Teamkameraden ihn wegen dem, was er zwischen den Beinen trug, Horse nannten.

Die schöne Wendy Bird war vom Stein aus der Schleuder eines Lost Boy getroffen worden. Bird? Nein, sagen wir Birds: denn was für Sky Schuyler galt, galt ebenso für Bindy Candell und Ren Klein. Alle drei waren wunderschön, alle drei groß, blond und üppig gebaut. Während die finanzielle Zukunft ihrer großen Familien in den Händen ihrer im höchsten Grade selbstsicheren Brüder lag, waren diese jungen Frauen dazu erzogen worden, über die Rollen ihres Clans zu wachen - ihren Stil, ihre Klasse. Ihr Image. Betrachtete man ihre bestürzten männlichen Verwandten jetzt, konnte man sich leicht vorstellen, wie groß ihr Verlust war. Wir Boys können uns um die Geschäfte kümmern, sagten die stumm trauernden Mienen der Familie, doch unsere Girls machen uns zu dem, was wir sind. Wir sind das Boot, und sie sind der Ozean. Wir sind das Fahrzeug, sie sind die Bewegung. Wer wird uns jetzt sagen, wie wir sein sollen? Außerdem herrschte aber auch Angst: Wer wird die nächste sein? Von allen reifen Mädchen, die uns gegeben wurden, um sie wie die goldenen Äpfel der Sonne von den Zweigen zu pflücken - welche wird als nächste vom Wurm des Todes befallen?

Eine lebende Puppe. Diese jungen Frauen waren dazu geboren, Trophäen zu sein, vollkommen ausgestattete Oscar-Barbies, um Eleanor Masters Solankas Worte zu gebrauchen. Es war deutlich zu erkennen, daß die jungen Männer ihrer Klasse auf die drei Todesfälle haargenau so reagierten, als wären begehrte Medaillen, goldene Schalen oder Silberpokale von den Sockeln ihres Clubhauses gestohlen worden. Ein Geheimbund betuchter junger Männer, die sich S&M nannten, was, wie verlautete, für Single & Male stand, plante angeblich eine Mitternachtsversammlung, um den Verlust, den die vielgeliebten Hauptspender unter ihren Mitgliedern erlitten hatten, zu betrauern. Horse Marsalis, Anders Stash Andriessen - Bettgenosse der kleinen Candell - und Lauren Kleins Spaßvogel Keith Medford (Club) führten die Trauernden an. Da der S&M ein Geheimbund war, leugneten sämtliche Mitglieder rundheraus seine Existenz und weigerten sich, Gerüchte zu bestätigen, daß die Trauerzeremonien in Gruppensex, kriegsbemaltem Nackttanz und Nacktbaden an einem Privatstrand auf Marthas Vineyard gipfelten, bei dem Kandidatinnen für die Vakanzen in den Betten der Big Guys aufs intimste getestet wurden.

Alle drei toten Mädchen und ihre noch lebenden Schwestern entsprachen also Eleanors Definition von Desdemonas. Sie waren Besitz. Und jetzt lief ein mordlustiger Othello herum, der in diesem Fall vielleicht das vernichtete, was er nicht besitzen konnte, weil eben dieses Nichtbesitzen ihn in seiner Ehre verletzte. Nicht wegen ihrer Treulosigkeit, sondern wegen ihres Desinteresses tötete er sie in dieser Y2K-Version des Theaterstücks. Aber vielleicht ermordete er sie auch ganz einfach, um ihren Mangel an Menschlichkeit aufzudecken, ihre Zerbrechlichkeit. Ihre Puppenhaftigkeit. Denn sie waren - jawohl! - Androidenfrauen gewesen, Puppen des modernen Zeitalters, mechanisiert, computerisiert, nicht die schlichten Nachbildungen längst vergangener Kinderzimmer, sondern voll realisierte Inkarnationen menschlicher Wesen.

In ihren Ursprüngen war die Puppe nicht ein Ding für sich gewesen, sondern ein Abbild. Schon lange vor den ersten Stoffpuppen und den abschreckenden Golliwogs hatten Menschen Puppen als Porträts bestimmter Kinder und auch Erwachsener angefertigt. Es war immer ein Fehler zuzulassen, daß andere eine Puppe von dir selbst besaßen; denn wer deine Puppe besaß, besaß ein wesentliches Teil von dir. Die extreme Verkörperung dieser Idee war natürlich die Voodoo-Puppe, die Puppe, in die man Nadeln stecken konnte, um demjenigen Schmerzen zuzufügen, den sie darstellte, die Puppe, der man den Hals umdrehen konnte, um einen lebenden Menschen umzubringen: aus der Ferne, und zwar so effektvoll, wie es ein muslimischer Koch mit einem Hühnchen tut. Dann kam die Massenproduktion, und das Band zwischen Mensch und Puppe wurde zerrissen; Puppen wurden sie selbst und Klone von sich selbst. Sie wurden Reproduktionen, Fließbandversionen, charakterlos, uniform. In der heutigen Zeit veränderte sich das alles abermals. Solankas eigenes Bankkonto verdankte alles dem Wunsch der modernen Menschen, Puppen nicht nur mit einer Persönlichkeit, sondern mit Individualität zu besitzen. Seine Puppen hatten viel zu erzählen.

Aber jetzt wollten Frauen wie Puppen sein, die Grenze überschreiten und wie Spielzeug aussehen. Jetzt war die Puppe das Original, die Frau das Abbild. Diese lebenden Puppen, diese schnürelosen Marionetten, waren nicht nur äußerlich aufgepuppt. Hinter ihrem hochgestylten Äußeren, unter dieser perfekt durchscheinenden Haut, waren sie so mit Verhaltenschips vollgestopft, so gründlich auf Etikette programmiert, so perfekt gepflegt und gekleidet, daß es für ein wenig schlampige Menschlichkeit keinen Platz mehr in ihnen gab. Sky, Bindy und Ren repräsentierten daher den letzten Schritt der Verwandlung in der kulturellen Geschichte der Puppe. Nachdem sie an ihrer eigenen Entmenschlichung mitgearbeitet hatten, endeten sie als bloße Totems ihrer Klasse, der Klasse, die Amerika lenkte, das wiederum die Welt lenkte, so daß ein Angriff auf sie, wenn man es so sehen wollte, einem Angriff auf das große amerikanische Imperium, die Pax Americana selbst gleichkam ... Eine Leiche auf der Straße, dachte Malik Solanka, wieder auf den Boden der Tatsachen zurückkehrend, sieht fast so aus wie eine zerbrochene Puppe.

... O Gott, wer wäre heute noch auf diesen Gedanken gekommen, wer außer ihm selbst? Gab es in Amerika noch jemanden mit so häßlichen, fehlgeleiteten Vorstellungen im Kopf? Wenn man diese jungen Frauen fragte, diese hochgewachsenen, selbstsicheren Schönheiten auf dem Weg zu Summa-cum-laude-Abschlüssen und glanzvollen Wochenenden auf teuren Jachten, diese Prinzessinnen des Jetzt, mit ihren Limo-Services, ihrer Wohltätigkeitsarbeit, ihrer schnellebigen Existenz und ihren zahmen, bewundernden Superhelden, die danach lechzten, ihre Gunst zu erringen - sie hätten geantwortet, daß sie frei seien, freier als irgendeine Frau in irgendeinem Land zu irgendeiner Zeit, und daß sie keinem Mann gehörten, ob Vater, Liebhaber oder Boss. Sie waren niemandes Puppen, sondern gehörten ganz sich selbst, spielten mit ihrer eigenen Erscheinung, ihrer eigenen Sexualität, ihren eigenen Geschichten: die erste Generation junger Frauen, die wirklich die Zügel in der Hand hielt, weder dem alten Patriarchat noch dem männerhassenden Hardliner-Feminismus hörig, der Blaubarts Tür aufgebrochen hatte. Sie konnten Karrierefrau und Kokotte sein, tiefgründig und oberflächlich, ernst und heiter, und sie trafen ihre eigenen Entscheidungen. Sie hatten alles - Emanzipation, Sex appeal, Cash und sie genossen es. Und dann kam jemand und nahm ihnen das alles, indem er ihnen den Schädel einschlug, sie mit dem ersten Schlag bewußtlos machte und ihnen mit den anderen den Rest gab. Also, wer war dieser Killer? Wenn es Entmenschlichung war, für die man sich interessierte, dann war dieser Mörder die richtige Adresse. Nicht sie selbst, sondern er, der Betonkiller, hatte sie entmenschlicht. Professor Malik Solanka, dem die Tränen übers Gesicht liefen, als er auf einem Barhocker tief gebeugt vor seinem Tequila saß, barg den Kopf in beiden Händen.

Saskia Schuyler hatte in einer Wohnung mit vielen, jedoch niedrigen Räumen in einem Haus gewohnt, das sie als das häßlichste Gebäude der Madison Avenue bezeichnete, eine Monstrosität aus düsterem Backstein, gleich gegenüber der Armani-Filiale, dessen einziger Vorteil es nach Skys Meinung war, daß sie dort im Geschäft anrufen und verlangen konnte, daß man die Kleider ins Schaufenster hob, damit sie sie durchs Fernglas betrachten konnte. Sie haßte die Wohnung, die ehemalige Zweitwohnung ihrer Eltern in New York. Die Schuylers lebten zumeist außerhalb der Stadt auf einem eingezäunten Grundstück in der hügeligen Landschaft von Chappaqua, New York, und verbrachten viel Zeit mit Beschwerden darüber, daß die Clintons sich ein Haus in der Nähe ihrer Heimatstadt gekauft hatten. Sky, erzählte Bradley Marsalis, pflegte ihren Eltern beruhigend zu sagen, daß Hillary nicht lange dort bleiben werde. »Wenn sie gewinnt, geht sie nach D. C. und in den Senat, und wenn sie verliert, wird sie noch schneller verschwinden.« Inzwischen wollte Sky die Wohnung an der Madison verkaufen und nach Tribeca umziehen, aber die Eigentümerversammlung hatte die Käufer, die sie gefunden hatte, dreimal abgelehnt. Das Thema Eigentümerversammlung brachte Sky auf die Palme. »Das sind doch nur mit Haarspray zugekleisterte, alte Weiber in fürchterlich engen, glänzenden Kleidern. Die sehen doch wie fest gepolsterte Sofas aus, und ich glaube, wenn man dazugehören will, muß man auch wie ’n Möbelstück aussehen.« Aber das Haus hatte einen Vierundzwanzig-Stunden-Türsteher-Service, und der diensttuende Nachtwächter, der alte Abe Green, berichtete, daß Miss Schuyler, als sie nach einer pompösen Nacht auf einer Musik-Preis-Gala (Horse hatte Verbindungen zur Branche) gegen halb zwei Uhr nach Hause gekommen sei, wie ’ne Million Dollar ausgesehen hätte. Sie habe sich an der Tür von einem eindeutig widerstrebenden Mr. Marsalis getrennt - »Mann, hat der beschissen ausgesehen!« stellte Green fest - und war bedrückt zum Lift gegangen. Green war mit ihr nach oben gefahren. »Damit sie ein bißchen lächelte, hab ich zu ihr gesagt, zu schade, daß Sie nur im vierten Stock wohnen, Miss, sonst könnte ich Ihren Anblick ein bißchen länger genießen.« Eine Viertelstunde später habe sie wieder den Lift gerufen. »Alles okay, Miss?« hatte Abe sie gefragt. »Ach ja, ich glaube schon. Ja, sicher, Abe«, sagte sie. »Sicher.« Dann hatte sie - immer noch in ihrer Party-Aufmachung - ganz allein das Haus verlassen und war nicht mehr zurückgekommen. Ihre Leiche wurde weit entfernt, downtown bei der Einfahrt zum Midtown Tunnel gefunden. Eine Recherche über die letzten Stunden von Lauren Klein und Bindy Candell ergab, daß auch sie erst spät nach Hause gekommen waren, ihren Boyfriends den Zutritt verweigert und kurz darauf das Haus wieder verlassen hatten. Als hätten die Mädchen das Leben selbst zurückgewiesen, um statt dessen zu einem Rendezvous mit dem Tod zu gehen.

Saskia, Lauren und Belinda waren nicht ausgeraubt worden. Ihre Finger- und Ohrringe, ihre Halsketten und Armreifen waren alle an Ort und Stelle gefunden worden. Auch sexuell waren sie nicht mißbraucht worden. Es hatte sich kein Motiv für die Morde ergeben, doch alle drei Boyfriends erwähnten die Möglichkeit eines heimlichen Verfolgers. In den Tagen vor ihrem Tod hatten alle toten Mädchen von einem Fremden mit Panamahut gesprochen, der so komisch rumgeschlichen sei. »Es ist, als wäre Sky hingerichtet worden«, erklärte ein bedrückter, zigarrenrauchender Brad Marsalis der Presse bei einem Foto- sowie Frage-und-Antwort-Termin in einer Hotelsuite in Vineyard Haven. »Es ist, als hätte jemand sie zum Tode verurteilt und das Urteil, na ja, kaltblütig vollstreckt.«